Freitag, 24. September 2010

Gelesen.

Ein Buch, das sich mit Literatur befasst und dabei selbst fast schon poetisch ist, findet man nicht alle Tage, und schon gar nicht eines, das dabei noch hoch politisch ist. 
Azar Nafisi hat mit "Lolita lesen in Teheran" ein solches Buch geschrieben.
Nachdem die heute in den USA lehrende Professorin für Englische Literatur Mitte der 1990er Jahre aus dem Lehrkörper der Universität Teherans ausgeschieden war, scharte sie einen kleinen klandestinen Lesekreis um sich, von dem sie in ihrem Buch voller Wärme erzählt. 
Sieben ihrer begabtesten früheren Studentinnen wählte sie aus, um über Vladimir Nabokov, Henry James oder Jane Austen zu diskutieren. 
"Namen, die man verehrte, Botschafter einer verbotenen Welt, die wir uns so rein und schön vorstellten, wie sie niemals war und sein wird." 
Über zwei Jahre hinweg trafen sich die Frauen allwöchentlich in Nafisis Wohnung, knabberten süßes Gebäck, tranken schwarzen und vielleicht noch süßeren Tee und diskutierten mit einem Engagement und einem Kenntnisreichtum über die Literatur des vom theokratischen Regime als teuflisch gebrandmarkten Westens, wie man sie in Universitätsseminaren wohl nur selten antrifft. 
Die sieben Studentinnen, die sich in Nafisis Wohnzimmer versammelten, hätten unterschiedlicher kaum sein können. 
Unter ihnen fanden sich tief gläubige Musliminnen ebenso wie westlich orientierte Frauen. 
Spannungen in der Gruppe konnten so nicht lange ausbleiben. 
Und dennoch entstand unter ihnen eine "echte Vertrautheit".
Nafisi zieht auch die Lesenden in dieses Vertrauen und lässt sie an den Sitzungen teilhaben, in denen nicht nur Lesarten und Interpretationen Nabokovs "Lolita", Austens "Stolz und Vorurteil" oder Fitzgeralds "Der große Gatsby" entwickelt und diskutiert wurden, sondern in denen auch Persönliches zur Sprache kam, Probleme erörtert und Freundschaften geschlossen wurden.
Die Autorin verknüpft ihre Berichte über den Lesekreis geschickt mit Rückblenden über die Entwicklung des Irans seit der islamischen Revolution 1979. 
Noch einmal durchlebt Nafisi die wichtigsten und einscheidendsten Ereignisse: den islamistisch-jakobinischen Terror in der ersten Zeit nach dem Umsturz, die schnell voranschreitende Entrechtung der Frauen, die Geiselnahme in der US-Botschaft und den Krieg mit dem Irak, in dem das Regime den Teheraner Frauen empfahl, sich "anständig bekleidet" schlafen zu legen, damit sie Fremden keinen "unzüchtigen Anblick" böten, falls ihre Häuser von Bomben getroffen würden.
So wird das Buch zu einer vehementen Anklage gegen das theokratische Regime, ist dabei jedoch ohne jeden Anflug von Selbstgerechtigkeit. 
Vielmehr macht sich Nafisi für das Aufkommen der islamistischen Tyrannei mit verantwortlich, hat sie als junge Frau doch während der 1970er Jahre in den USA an Protesten gegen den Schah teilgenommen und ist während des Umsturzes voller Hoffnung in den Iran zurückgekehrt, um "mit einer der Situation ganz und gar nicht angemessenen Hochstimmung" als jüngste Dozentin ihre Tätigkeit am Englischen Seminar der Fakultät für Persisch und Fremdsprachen an der Universität Teheran aufzunehmen.
Nafisi mischt ihren Berichten gelegentlich einen kleinen Schuss Selbstironie unter und immer wieder kürzere theoretische, politische und natürlich auch literarische Reflexionen. 
Etwa über den Begriff "islamische[r] Feminismus", für den die Autorin nicht viel übrig hat, da er "die Vorstellung von Frauenrechten mit den Grundlagen des Islam zu versöhnen sucht".
Der Autorin zufolge ein Oxymoron, das dem iranischen Regime eine "neue Doppelbödigkeit" ermöglichte: "[S]ie konnten behaupten, einen progressiven Islam zu fördern, während moderne Frauen als verwestlicht, dekadent und illoyal denunziert wurden."
Von 1987 an unterrichtete Nafisi an der Allameh Tabatabai Universität, die als eine der liberalsten im Lande galt, was allerdings nicht verhinderte, dass Studentinnen bestraft wurden, wenn sie auf den Fluren lachten oder etwas schnelleren Schrittes die Treppen hoch eilten, um Verspätungen zu vermeiden. 
Die Mitglieder der Fakultät grübelten indessen über die Frage, wie das Wort "Wein" aus einer Kurzgeschichte Hemingways zu streichen sei, oder befanden nach offenbar eingehender Lektüre, Emily Brontës "Wuthering Heights" dulde den Ehebruch und dürfe daher nicht gelesen werden. 
Derlei Absurditäten des "iranischen Zensursystems'" seien zwar amüsant zu lesen, gleichwohl aber ebenso "bittere Realität" wie die "willkürlichen Festnahmen der 'Sittenpolizei' inklusive der Erpressung falscher Geständnisse und sexistischer Demütigungen".
"Wir alle waren Opfer der Willkür eines totalitären Regimes, das fortwährend in die geheimsten Winkel unseres Lebens eindrang und uns seine unbarmherzigen Erfindungen aufzwang", konstatiert die Autorin. Opfer, deren Verhältnis zu den täglichen Erfahrungen der Gewalt und Demütigung "seltsam distanziert" gewesen sei.
"Als seien wir alle an Schizophrenie erkrankt." 
Nafisis Literaturkurs war so weit mehr als nur ein Refugium. 
Er war "[e]in Zimmer für uns allein", wie ihn eine ihrer in der angelsächsischen Literatur bewanderten Studentinnen zu nennen pflegte.
Dreierlei prägt die Interpretationen und Lesarten der Studentinnen und ihrer Mentorin: genaue Lektüre der behandelten Werke, gründliche Kenntnis der westlichen Literaturgeschichte und das Leben im Iran, das stets in die Wahrnehmung der Bücher einfließt, ohne allerdings je den Blick auf sie zu verengen. 
In Nabokovs "Lolita" etwa finden die Teilnehmerinnen des Lesekreises "die meisten Anklänge an unser Leben in der Islamischen Republik Iran". 
Doch "nicht speziell eine Kritik an der Islamischen Republik" wird aus dem Buch herausgelesen. 
Vielmehr richtet es sich der Interpretation einer Studentin zufolge "gegen jede Form von totalitärem Denken" - und sie versteht es, diese Auffassung fundiert zu begründen. 
Eine andere merkt an, dass die Figur Lolita in der islamischen Republik schon lange als "reif genug" betrachtet werden würde, um mit einem Mann verheiratet zu werden, "der älter als Humbert ist". 
Denn Dolorez Haze war bereits zwölf Jahre, als sie Humbert Humbert zum ersten Mal begegnete. 
Nach dem im Iran herrschenden islamischen Recht gelten Mädchen schon mit dem neunten Lebensjahr als heiratsfähig.
"[N]icht so sehr die Wirklichkeit als vielmehr das Aufscheinen der Wahrheit" suchen Nafisi und ihre Schülerinnen in der Literatur zu finden. 
Einer Wahrheit, die gegen "eine zum Feind gewordenen Wirklichkeit" wirkt. 
Genau diese Wahrheit findet man auch in Nafisis Buch, und dies ist nur einer von vielen guten Gründen, es zu lesen. 
Die Literaturinterpretationen, die lesende Teilhabe an Nafisis Lektürekreis, die Informationen und Überlegungen zur politischen Entwicklung seit der iranischen Revolution, zum Leben im Iran und zu der Situation der Frauen sind einige weitere. 
Jeder einzelne von ihnen genügt, um zu Nafisis wunderbarem Buch zu greifen. 
Schwerlich dürfte sich aus einem anderen Werk mehr über die Islamische Republik Iran erfahren lassen.
Und dabei ist es eine ebenso zarte wie leidenschaftliche Liebeserklärung an die Literatur. 

2 Kommentare:

  1. Ich hab das als Hörbuch.... aber irgendwie komm ich im Moment zu nix. Lesen, Stricken, für all das fehlt mir die Ruhe. Leider. Das muß anders werden :-)

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  2. Ich könnte gar nicht ohne Bücher! Jeden Abend wenigstens ein Kapitel! :-)

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